Die Sache mit den Glücksverstecken

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Illustration Kreatives Schreiben mit Hand und Fuß

Was macht mich glücklich? Durch strömenden Regen zu radeln gewiss nicht. Augen zu und durch, das hilft in solchen Momenten immer. Aber der Reihe nach.
Die Poesietherapeutin Ingeborg Woitsch lädt donnerstags um 18 Uhr in ihre Schreibwerkstatt, und da will ich hin. „Die Rückkehr der Schiffe“, heißt die Veranstaltung, es geht nicht nur ums Schreiben, sondern auch ums Reisen. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, besonders prickelnd zu formulieren. Wir schreiben keine Artikel, beantworten keine E-Mails und erstellen auch keine Berichte. Ingeborg Woitsch hat gute Erfahrung mit dem Schreiben gemacht, die sie hier gerne weitergibt. Es reinige die Psyche, schaffe Klarheit – und mache unter Umständen eben glücklich.
Das erzähl’ mal jemandem, der jeden Tag mit Deadlines ringt!
Acht Frauen sind gekommen, alle in den besten Jahren und nass bis auf die Knochen – wie ich. Mehr oder weniger wackelig hocken wir auf Yogakissen, die Schreibblöcke und Stifte im Anschlag. „Nicht so schnell“, sagt Ingeborg, eine leise, aber fröhliche Frau mit Lachfältchen, „kommt erst einmal an.“
Sie schlägt den Gong, wir schließen die Augen, sollen meditieren. Der Magen knurrt, unruhiges Gezappel. Irgendwann herrscht Stille im Kopf, endlich. Und wieder klingt der Gong.
Glück – so lautet das Thema des Abends in der Schreibwerkstatt Poesietherapeutin Ingeborg Woitsch. Die erste Aufgabe: „Was ist ein Glücksversteck? Schreibt eure Definition!“
Ungelenk fährt der Kugelschreiber über das Papier. Es fühlt sich ungewohnt an, mit der Hand zu schreiben. Konzentriert beugen sich alle über ihre Blöcke, es ist ein bisschen wie bei „Stadt, Land. Fluss“, nur ruft hier niemand „Stop!“, wenn er fertig ist. Glücksversteck – was soll das sein? Das Glück verbirgt sich häufig dort, wo es keiner vermutet, so philosophiere ich herum. Steckt es nicht sogar in Situationen, die zunächst als unangenehm empfunden werden? Einer Fahrradfahrt im Regen zum Beispiel. Stellt sich nicht manchmal Freude ein, nachdem man Dinge geschafft hat, die einem etwas abverlangt haben?
Ganz im Gegensatz zu den Glücksversprechen, die an allen Ecken lauern. Etwa, wenn sich die Falten von der neuen Hautcreme keineswegs beeindrucken lassen, obwohl die Werbung was ganz anderes verspricht. Im Duft aus der Bäckerei, die dir wieder einmal den Kuchen von gestern unterjubelt, im Sonnenschein am Wochenende, der dich dazu verleitet, dich zu dünn anzuziehen …
Wer will zuerst vorlesen? Niemand wirklich. Aufmunterndes Nicken, verlegenes Räuspern. Dann lesen wir doch los, es geht reihum. Interessant, was die anderen so geschrieben haben, manch ein Beitrag klingt wie ein Gedicht, Ingeborg lächelt zu jedem Text wohlwollend.
Die nächste Übung findet im Liegen statt, was gut ist, weil langsam die Knie schmerzen. Unter Fleecedecken liegen wir da, wie nach einer anstrengenden Yogastunde. Einatmen, ausatmen. Ingeborg schlägt den Gong, wir schließen die Augen, Ingeborg liest etwas vor, eine Liste möglicher Glücksverstecke. „Berggipfel“, sie flüstert beinahe, als wolle sie uns nicht stören. „Fliegen, Träumen, Schaumbad, Sternschnuppe“, hinter jedem Wort macht sie eine kurze Pause. „In einer Sommernacht barfuß über Kopfsteinpflaster rennen …“ Ob das wirklich schön ist? „Nackt im See schwimmen“, fährt Ingeborg fort, „den Vollmond betrachten, Pasta und Rotwein am Freitagabend …“ Das klingt gut, heute ist immerhin schon Donnerstag. Gong.
Und wieder schreiben wir und spüren diesmal unseren eigenen Glücksmomenten nach. Wann war ich eigentlich zuletzt so richtig gut drauf? Als der Zahnschmerz nachließ. Und der Kirschstreuselkuchen in diesem Kaffee an Auguststraße war wirklich super. Wann habe ich das letzte Mal ohne schlechtes Gewissen gefaulenzt? Das muss toll gewesen sein. Die Kolleginnen schwelgen im vergangenen Sommer, in ihren Urlauben mit den Kindern oder Enkeln. Glückliche Gesichter. Ich beneide sie um ihre Sommerhäuser am See, über die sie heute schreiben.
Irgendwann ist die Zeit um. Die Sommerferien sind ohnehin längst vorbei und draußen herbstelt es mit fiesen Graupeln. Aber morgen ist Freitag, dann gibt es Pasta und Rotwein.

Die Schreibwerkstatt „Die Rückkehr der Schiffe“ findet regelmäßig donnerstags im Aquariana Seminarzentrum, Tempelhofer Berg, 7 in Berlin Kreuzberg statt. Infos unter http://www.ingeborgwoitsch.de

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