Am Ende steht immer die Freude

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Portrait Susanna Nieder

Psychologie der Vision

Was genau bedeutet Psychologie der Vision?
Psychologie der Vision ist ein Selbsterfahrungsansatz, der auf Heilung setzt. Entwickelt wurde er von den Amerikanern Chuck und Lency Spezzano. Die beiden – heute 70 und 65 Jahre alt – sind über 30 Jahre um die Welt gereist, um Leute auszubilden. In ihrer Methode geht es um Gefühle. Was wir normalerweise tun, ist eine Geschichte zu erzählen, anstatt uns ein Gefühl bewusst zu machen. Unbewusste Gefühle beeinflussen uns permanent. Wenn wir bereit sind, die zu fühlen, dann heilen wir eine Stelle in uns, die sonst Auslöser für frustrierende Erfahrungen sein kann, die wir uns dann nicht erklären können.

Wie läuft das ab?
Meist in der Gruppe. Es können drei Personen sein oder auch über 100 wie in den Seminaren von Chuck und Lency. Dann werden „per Zufall“ Fokuspersonen bestimmt, Chuck etwa zieht Namen aus einer großen Schüssel. Eine Grundannahme des gesamten Ansatzes ist, dass es keine Zufälle gibt. Die Fokusperson ist diejenige, die besonders geeignet ist, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten. Was diese Person mitteilt, geht alle an, weil es ein Aspekt des Gruppenbewusstseins ist. Es entsteht ein gemeinsamer Prozess, der allen die Chance bieten, etwas zu heilen und einen Schritt weiterzukommen.

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Was bedeutet heilen?
Dass ein schmerzhaftes Gefühl sich auflösen kann und integriert wird.

Wie genau funktioniert der Prozess?
Chuck fragt immer: ‚Hast du ein schönes saftiges Problem für uns?’ Wenn die Fokusperson dann zum Beispiel sagt: ‚Mein Freund hat mich verlassen’, dann fragt er: ‚Und wann hast du angefangen, ihn zu verlassen?’

Das heißt, man ist selbst schuld, wenn einem etwas Schlimmes passiert?
Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortung. Schuld lähmt, Verantwortung ermächtigt. Sobald ich Schuldgefühle habe, tue ich alles, um sie nicht zu fühlen und werde oft sehr ungerecht zu der Person, der gegenüber ich Schuldgefühle habe. Wenn ich Verantwortung übernehme, sage ich: ‚Das und das habe ich gemacht, tut mir leid, war ein Fehler’ – und dann gehe ich weiter. Das ist sehr anders als alles, was wir gelernt haben.

Ist das eine Psychotherapie?
Ich finde es sehr viel wirkungsvoller. Ich habe drei Psychoanalysen gemacht, weil es wirklich viel aufzuräumen gab in meiner Familie, und am Ende war immer noch der Vorhang zu und alle Fragen offen. Die Psychologie der Vision funktioniert auch bei Leuten, die schon viel gemacht haben.
Wenn man in eine Therapie geht, ist man ja schon pathologisiert. Das hier sehe ich mehr als einen freiwilligen Akt. Für Menschen, die erkennen: ‚Ich habe Sachen laufen, die ich nicht haben will und auch nicht weitergeben will.’ Es geht um Selbsterfahrung. Für viele klingt das nach esoterischer Spinnerei, dabei ist es das Pragmatischste, was man sich vorstellen kann: Ich geh dahin, ich heil das Ding, ich geh nach Hause und höre auf zu streiten.

So einfach?
Es ist total simpel, aber wir sind so anders aufgewachsen, dass es Zeit und Übung erfordert, die andere Möglichkeit zu erkennen.

Welche Rolle spielt die Spiritualität dabei?
Bei jedem Coaching können Sachen passieren, die du niemals für möglich gehalten hättest. Ich ‚mache’ das nicht, ich lasse es durch mich durch. Das ist das Spirituelle daran. Aber das muss der Klient gar nicht wissen, der Ansatz funktioniert genauso bei Leuten, die mit Spiritualität nichts zu tun haben wollen. Es ist zum großen Teil Energiearbeit. Und um Energie zu spüren, muss man einfach nur ein bisschen aufmerksam sein. Jeder kann erkennen, dass nicht nur das da ist, was wir sehen.
Jesus hat gesagt: ‚Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, bin ich mitten unter ihnen’ – und das ist so was von die Wahrheit! Für mich ist Jesus die Gestalt, für andere ist es der Buddha oder sonst wer. Ob es Chiffren sind oder verdichtete Energie kann ich nicht sagen, aber ich kann es spüren.

Du hast so einen schönen Satz gesagt im Workshop: ‚Am Ende steht immer die Freude’, kannst du das genauer erklären?
In so einer Gruppe kommt man nicht zusammen, um zu sagen: Mir geht es super. Es können entsetzliche Sachen hochkommen. Wobei es letzten Endes nur sechs Gefühle gibt, die kommen: Wut, Angst, Ekel, Trauer und Schmerz – und das sechste Gefühl ist die Freude. Wenn du wirklich bereit bist, dich auf den Prozess einzulassen und alle Gefühle durchzufühlen, kommst du am Ende immer bei der Freude heraus.

Warum?
Weil die Liebe ist die einzige Wahrheit ist.

Das klingt jetzt aber sehr nach Kirche.
Ja, und ich habe Jahre gebraucht, um das Wort Liebe auszusprechen, ohne mir blöd vorzukommen. Wenn man so verkorkst ist, dass man das Wort Liebe nicht aussprechen kann, sollte man auf jeden Fall mal genauer hinschauen.

Wie hat dir die Psychologie der Vision beim Hinschauen geholfen?
Ich habe gelernt, dass wir die Geschichten, die wir über unser Leben erzählen, auch anders erzählen können. Meine ging jahrelang so: ‚Mein Vater war katholischer Priester, und deshalb konnte er sich uns nicht zuwenden, und deshalb kann ich nicht mit Männern.’ Seit ich mich in meinen inzwischen verstorbenen Vater hineinversetzt habe, kann ich die Geschichte anders erzählen: ‚Mein Vater war ein Held. Er hätte schon mit zwei Jahren aufgeben können, als seine Mutter gestorben ist, er hätte mit sieben aufgeben können, als er missbraucht wurde, er hätte aufgeben können, als er in den Krieg musste, hat er aber nicht getan. Er hatte ein so unfassbar schweres Leben, dass von seinen ganzen Möglichkeiten schätzungsweise noch sieben Prozent übrig geblieben sind – aber von denen hat mein Vater hundert Prozent gegeben.’
Du kannst lernen, eine gute Geschichte zu erzählen. Die ist genau so wahr wie die, die du bisher erzählt hast.

Ein Grundsatz der Psychology of Vision lautet: Wir sind immer am perfekten Ort, um das zu lernen, das wir lernen müssen. Das klingt angesichts bestimmter Schicksale – zum Beispiel dem von Kindern, die von klein an missbraucht werden – zynisch.
Der Teil funktioniert nur, wenn man bereit ist, spirituell zu denken. Wenn man bereit ist, zu glauben, dass wir uns als Seelen entscheiden, auf die Welt zu kommen. Ich habe verstanden, was damit gemeint ist, als ich bei einem Workshop in Kanada Angehörige der First Nations, der indigenen Völker, kennen gelernt habe, die als Kinder in staatlichen Internaten unvorstellbaren Missbrauch erlitten haben. Ein Chief ist aufgestanden und hat gesagt: ‚Ich habe in meiner Kindheit Sachen erlebt, die sollte kein Mensch erleben, aber jetzt sehe ich: Ich kann da rauskommen. Ich kann dem Täter vergeben und aufhören, Opfer zu sein. Hier stehe ich und bin frei.’

Gelungene Beziehungen sind ja letztlich das, was wir alle wollen, und trotzdem ist es bei den allermeisten Menschen so schwer – warum?
Es ist so schwer, weil wir es nicht anders kennen, weil unsere Eltern es nicht anders drauf hatten, weil das, was wir über Beziehung gelernt haben, unzulänglich ist. Alles andere müssen wir selber lernen. Dafür ist es nötig, jede Menge Schutt aus dem Weg zu räumen – und zwar täglich.

Du sagst das so, als wären wir alle gleichermaßen betroffen. Es gibt aber doch Menschen, die ganz gut klar kommen.
Ich glaube, dass wir alle irgendwann ran müssen. Klar, man kann durchs Leben kommen, ohne so eine Arbeit zu machen, aber dann kann es passieren, dass um einen herum Probleme auftreten – dass deine Kinder, dein Mann, deine Schwester betroffen sind. Es geht nicht nur um dich.

Was ist deiner Meinung nach das größte Hindernis auf dem Weg zum Glück?
Das größte Hindernis ist der Selbstangriff. Wir sind aus unserer Kindheit beschädigt herausgekommen, wir haben alle viele Brüche erlebt, Situationen, aus denen wir den Schluss gezogen haben: ‚Du taugst nichts.’ Es stehen da ganz viele leidende Kinder in uns herum, die wir wieder einsammeln müssen.

Was macht Dich glücklich?
Wenn Beziehungen gelingen. Wenn mein Mann und ich es schaffen, gemeinsam voran zu gehen. Die Paarbeziehung ist der Kern. Wenn die gelingt, dann blüht alles nach außen, es entsteht Fluss, wir können die Kinder lieben, uns um die alten Eltern, die Geschwister und Freunde kümmern, geben und empfangen. Das macht mich wirklich glücklich.

Susanna Nieder ist Journalistin und Coach. Sie hat das Selbsterfahrungs- und Heilmodell der Psychologie der Vision von deren Gründern Chuck und Lency Spezzano erlernt. Sie bietet Workshops, Paar- und Einzelcoachings an.
Kontakt: sunieder@aol.com

http://www.pov-int.eu

 

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