Helden für einen Tag

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Kollege aus Familienbildern von Bettina Homann

Psychologie der Vision

‚Nähe’ ist das Thema des eintägigen Workshops, den Susanna für diesen sonnigen Vorfrühlingstag angesetzt hat. Seit ich mich angemeldet habe, suche ich nach Ausreden nicht hinzugehen. Nähe ist irgendwie schwierig. Werden in der Yogastunde Partnerübungen angesetzt, stehe ich immer kurz davor, fluchtartig den Raum zu verlassen. Offenbar geht es anderen ähnlich. Bei keinem anderen Thema gibt es so Viele, erzählt Susanna, die zu- und wieder absagen, vielleicht doch kommen, sich verspäten. Schließlich werden wir fünf – zwei Männer, drei Frauen, ein Paar darunter, das – glaubt man den vielen Zärtlichkeiten, die es austauscht – kein Problem mit Nähe zu haben scheint. Sechs Stühle im Kreis. Aber zunächst heißt es zu etwas zweifelhafter 80er-Mucke tanzen. Mir ist nicht danach. Egal, Augen zu und durch. Danach ist die Stimmung tatsächlich etwas lockerer. Wir setzen uns und Susanna erklärt ein bisschen. Sie sagt den schönen Satz: „Am Ende steht immer die Freude.“ Das macht Mut.

Zum ausführlichen Interview mit Susanna: https://www.happster.de/am-ende-steht-immer-die-freude/

In der Hand hat sie ein Set Karten, aus denen sie immer mal wieder eine ziehen wird im Laufe des Tages. Wie eine Hellseherin. Die Zukunft liest sie uns aber nicht, sondern die Gegenwart (und manchmal die Leviten).
Tina* fängt an. Manchmal bereut sie es, ein zweites und drittes Kind bekommen zu haben. Wie anders könnte ihr Leben aussehen. Sie vermisst es, den Winter in Thailand zu verbringen, ihren spirituellen Weg fortzusetzen. Wir alle kennen das. Jede Entscheidung, die wir treffen, bedeutet den Verlust so vieler Möglichkeiten, die wir verschmerzen müssen. Aber darf eine Mutter überhaupt zweifeln, ob ihr Kind die richtige Entscheidung war? Die Probleme fangen damit an, dass wir meinen nicht fühlen zu dürfen, was wir fühlen. Gefühle wegdrücken, verleugnen. Wir alle tun das.„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“ lautet einer der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur. Ich glaube nicht wirklich, dass das stimmt. Auch im Unglück sind wir uns alle ähnlich. Sind doch die Ursachen immer die gleichen. Mama hat mich nicht so geliebt, wie ich es gebraucht hätte. Papa sieht mich nicht wie ich wirklich bin. Mutter war emotional überfordert, Vater nicht da. Es braucht gar keinen Missbrauch oder Bombenhagel, jede Kindheit hält ein Trauma bereit. Und so banal und austauschbar es oft erscheinen mag – für jeden von uns bedeutet es die Vertreibung aus dem Paradies.
Ich staune darüber, wie nah ich mich diesen Fremden fühle. Es ist kein Zufall, sagt Susanna, dass genau wir hier zusammen gekommen sind. Jedes Thema, das aufkommt, betrifft uns alle. Immer wieder geht es darum, an die Gefühle heran zu kommen, die hinter den Geschichten stehen, die wir zu erzählen gelernt haben. Die Psychologie der Vision geht – wie viele spirituelle und therapeutische Ansätze – davon aus, dass Gefühle sich erst auflösen können, wenn sie wirklich angenommen und gefühlt werden. Also müssen wir jetzt alle durch. Durch Bernds* tränenreichen Zusammenbruch, durch Kais* Wut. Als ich dran bin, lande ich – wie sollte es anders sein – bei meiner Mutter. Bei dem, was sie nicht geben konnte, bei dem, was sie nicht bekommen hat. Susanna fordert mich auf, ihr zu geben, was sie braucht, meiner Großmutter zu geben, was sie braucht. Kurz frage ich mich, wie das gehen soll, dann passiert etwas Merkwürdiges. Es ist, als würde ein Strom von Energie durch mich hindurch fließen. Zurück in der Zeit, die aber keine Rolle mehr spielt, weil alles jetzt passiert. In diesem Moment weiß ich, dass immer genug da ist. Und ich spüre tatsächlich eine große Freude.
Nach den intensiven gemeinsamen Stunden, fühlen wir uns erschöpft, aber auch erleichtert. Wir gehen Pizza essen und unterhalten uns wie Leute das eben tun, die sich nicht so gut kennen. Die Stimmung ist gelöst. Von Schmerzen und Schwierigkeiten ist nicht mehr viel zu spüren, alle wirken so, als kämen sie ganz gut klar. Wahrscheinlich hilft es im Umgang mit anderen Menschen, sich gelegentlich bewusst zu machen, dass hinter all unseren Fassaden die gleiche Verletzlichkeit steckt. Der Satz fällt mir ein, mit dem mich Alain de Botton, ein erfolgreicher, smarter Mann, Autor diverser Bestseller, letzten Sommer in Erstauen versetzt hat: „We are all just barely making it.“
(*Name geändert)

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