Das Leid der anderen

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Seit Januar arbeite ich als Telefonseelsorgerin. Ich höre Menschen zu, die von ihrer Not erzählen. Von Schicksalsschlägen und Depressionen, von Gewalt, Verzweiflung, Einsamkeit und Angst. Ich fühle mit den Anrufer:innen, wenn ich ihnen zuhöre. Und dennoch gehe ich nach meiner Schicht nicht bedrückt oder gar verzweifelt nach Hause. Ich gehe bewegt, nachdenklich, berührt. Manchmal fühle ich mich sogar richtig glücklich, darüber staune ich selbst.
Familie und Freunde haben ein wenig besorgt reagiert, als ich von meinem Entschluss erzählt habe, diese Arbeit machen zu wollen. Sie fürchteten, dass sie mich zu sehr belasten würde – habe ich doch selbst Phasen psychischer Krankheit hinter mir, Phasen großer seelischer Not.
Aber es gab in mir die starke Gewissheit, dass ich das tun kann (und eine einjährige, sehr fundierte Ausbildung, die mich gut vorbereitet hat). Dass ich das tun kann, vielleicht sogar gerade wegen meiner eigenen Entwicklung. Als nämlich das „Etwas-dagegen-tun“, das jahrelang meine Strategie war, mich nur immer tiefer in Not gebracht hat, habe ich die heilende Kraft des „sein mit“ gelernt. Ich habe sie gelernt ist natürlich nicht richtig: Ich lerne sie, ganz langsam, jeden Tag ein bisschen mehr. Vor allem durch Meditation und Yoga Nidra http://www.yoga-nidra-berlin.de, bei dem es darum geht, zu üben, wahrzunehmen und anzunehmen, was ist und den Impuls, etwas anders haben zu wollen, gehen zu lassen.
Auch bei meiner Arbeit am Telefon übe ich das. Ich „bin mit“ dem, was die Menschen mir erzählen und lasse den Impuls gehen, ihre Probleme zu meinen zu machen. Es ist zutiefst menschlich, die Not anderer schlecht aushalten zu können und sie daher mit „Mach doch mal …“ und „Tu doch dies …“ zu bedrängen. (Und gereizt zu reagieren, wenn sie in ihrer Not verharren.) Aber wenn es nicht gerade um ganz konkrete Fragen wie „Bei welchem Amt muss ich anrufen, um …“ geht, hilft das meist nicht. Weil jede ihren ganz eigenen Weg gehen muss. Es ist manchmal ganz und gar unverständlich, warum jemand eine quälende Situation nicht ändert oder an eine Geschichte glaubt, die völlig verrückt ist – aber die Not, in der er/sie sich befindet, ist real. Und wenn Not da ist, finde ich, geht es auch nicht um die Frage, wie berechtigt sie ist, wie sehr jemand „selbst schuld“ ist. Ich kann keine Lösungen liefern, ich kann noch nicht einmal wissen, ob das Telefonat jemandem hilft. Aber ich kann für eine halbe Stunde oder auch eineinhalb den Raum bereitstellen, in dem etwas einfach genauso sein darf, wie es ist. In dem jemand genauso sein darf, wie er/sie ist. Und wenn ich da einfach so bin, mit diesem einen anderen Menschen, den der Zufall oder das Schicksal mir für diesen Moment zugeteilt hat, durchströmt mich manchmal ein warmes Gefühl, weil mir unsere gemeinsame Menschlichkeit bewusst wird, unsere Verletzlichkeit, unsere Unzulänglichkeit und unser Ausgeliefertsein. Einander in diesem Ausgeliefertsein beizustehen, ist möglicherweise Liebe. Und die macht möglicherweise – ziemlich sicher sogar – glücklich. So erkläre ich mir das.

http://www.telefonseelsorge-berlin.de

 

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