Sober Sister: Das AF-Tagebuch, Teil 1

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Nüchtern in einer alkoholisierten Kultur

Alkohol ist aus unserer Kultur nicht wegzudenken. Er steht für Genuss, Lebensfreude, Kultur. Wer in einer alkoholfixierten Welt nicht mittrinkt, dem wird ein Problem unterstellt. Das ist für alle anderen einfacher, als über den eigenen Konsum nachzudenken. Als normal gilt, wer in ‚vernünftigem‘ Maß Alkohol konsumiert. Was vernünftig ist, wird recht großzügig ausgelegt, regelmäßiger Kater einkalkuliert. Der Alkoholkonsum der Weltbevölkerung ist von 1990 bis 2017 um 70 Prozent gestiegen. Deutschland ist „Hochkonsumland“ – nur drei Prozent der erwachsenen Deutschen lebt abstinent. Sich überhaupt nur die Frage zu stellen, ob ein Leben ohne Wein, Bier und Schnaps besser sein könnte, ist also in gewisser Weise ein Akt der Subversion. Ich habe es dennoch getan und nach langem Nachdenken beschlossen, es auszuprobieren: Seit dem 4. August bin ich nüchtern.

Wie es anfing
Im Frühjahr hörte ich die leise Stimme in meinem Kopf wieder öfter. Sie sagte: „Du hast ein Problem. Mit Alkohol“. Die lauten Stimmen konterten: „Blödsinn, ein, zwei Gläser Wein am Abend sind doch kein Problem!“
Aber die Stimme ging nicht weg. Seit vielen Jahren arbeite ich durch allerlei Techniken wie Meditation, Schattenarbeit und transparente Kommunikation daran, mein Bewusstsein zu schärfen und die Selbsterkenntnis zu verbessern. Der Nachteil daran ist: Ich habe mein Bewusstsein geschärft und meine Selbsterkenntnis verbessert. Das bedeutet, dass das In-die-Tasche-Lügen immer schwieriger wird. Na gut, trinke ich halt mal weniger. Mit diesem Entschluss wird es schwierig. Ich will nämlich nicht weniger trinken. Jeden Morgen beschließe ich: Heute trinke ich nicht. Jeden Abend sehne ich mich so sehr nach meinem Wein, dass ich mir sage: Morgen. Oft freue ich mich schon auf dem Heimweg auf den leckeren Riesling, der in meinem Kühlschrank steht. Fruchtiger Weißwein ist mein Getränk.

Bin ich Alkoholikerin?
Paradoxerweise wird also mit dem Entschluss, zu verzichten, die geahnte Abhängigkeit erst so richtig deutlich. Und obwohl es selten mehr als zwei Gläser sind, was ja in unserer Gesellschaft nicht als großes Problem angesehen wird, kann ich die offenbar nicht so einfach weglassen. Bin ich also Alkoholikerin? Aber Alkoholiker sind doch nur die, die die Kontrolle über ihr Leben verloren haben, jeden Abend lallend in der Ecke liegen oder unter der Brücke schlafen, oder? Wer versucht herauszufinden, ob sie Alkoholikerin ist, tut sich schwer. Interessanterweise gibt es nämlich gar keine eindeutige Definition. Warum man trinkt, so heißt es in diversen Selbsttests, ist entscheidend. Wer trinkt, um sich nach einem stressigen Erlebnis zu entspannen, hat ein Problem, wer sein Glas edlen Whiskey hingegen kultiviert genießt, nicht. Mich überzeugt diese Unterscheidung nicht. Schließlich bewirkt Ethanol in jedem Gehirn das Gleiche. Warum ist jeder Mensch, der Zigaretten konsumiert (egal aus welchem Grund) ein Raucher, aber nicht jeder, der Alkohol konsumiert ein Trinker?
Jetzt, wo ich es mir eingestanden habe, regt sich Widerstand. Innerlich frei zu sein, ist eines der wichtigsten Anliegen in meinem Leben. Ich melde mich für eine 90-Tage-Challenge bei OYNB (One year no beer) an, eine in England gegründete Organisation, die mir auf Facebook ständig angezeigt wird. Für 109 Pfund, gibt es täglich motivierende Botschaften und informative Kurzvideos, außerdem Zugang zur Facebook-Gruppe, in der Erfahrungen ausgetauscht werden. Am 1. August, soll es losgehen.

Teil 2: https://www.happster.de/tag-1-das-af-tagebuch-teil-2/

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