Über Jahre habe ich etwas Merkwürdiges bemerkt: Nach intensiven Meditationsretreats, Yogastunden oder Coaching-Sessions war mein Bedürfnis nach dem abendlichen Drink besonders groß. Wie kann das sein, fragte ich mich, wo ich mir doch so viel Gutes getan habe? Warum sehne ich mich nach dem ungesunden Getränk gerade dann so sehr, wenn ich an meiner Bewusstseinsentwicklung arbeite, mich damit beschäftige, zu wachsen, stärker, glücklicher, besser zu werden?
Um diese Frage zu beantworten, möchte ich ein bisschen ausholen und das Phänomen des „spiritual bypassings“ beleuchten. Damit ist einen Art Vermeidungsverhalten gemeint, das durch spirituelle Praxis getarnt wird. Wie viele andere bin ich in diese Falle getappt, als ich Yoga und Meditation für mich entdeckt habe. Wenn ich eine Routine von Übungen, die Lektüre weiser Texte, den Besuch möglichst vieler Transformations-Retreats in mein Leben einbauen würde, so die Idee, würde der ganze Seelenmüll einfach verschwinden. Läuft so aber leider nicht – auch wenn manche es schaffen, diese Illusion ihr Leben lang aufrecht zu erhalten (und zu verkaufen). Mein Weg zur Erleuchtung führt leider erst mal in den dunklen Keller. Und je mehr ich mich öffne und verbinde, desto mehr alter Schmerz, Scham und Unzulänglichkeitsgefühle kommen an die Oberfläche. Die möchte ich lieber nicht fühlen. Und hier sind wir wieder bei Alkohol. Seit meiner Jugend habe ich Alkohol nämlich, wie ich jetzt weiß, verwendet, um meine Gefühle abzufedern, wenn sie eine gewisse Intensität erreicht haben, die mir bedrohlich erschien. Ich glaube inzwischen zu wissen, dass nur die bewusste Zuwendung zu all diesen unangenehmen Emotionen echte spirituelle Entwicklung möglich macht. Und immer, wenn wir ein Level gemeistert haben, wird es auf dem nächsten ein bisschen schwerer. Nüchtern zu bleiben bedeutet für mich also: mich den Dämonen und Schattenseiten zuzuwenden, ohne die unangenehmen Gefühle, die damit verbunden sind, zu betäuben. Das fühlt sich oft gar nicht gut an, aber richtig. Glücklich sein, so wie ich es verstehe, bedeutet vor allem lebendig sein, Teil des pulsierenden Energiestroms, der das Leben ist. Das Missverständnis zu überwinden, dass es bestimmte Gefühle gibt, die man fürchten und bekämpfen muss, trägt also zum Glück bei.
Das AF-Tagebuch, Teil 8: Ohne Krücken auf dem holprigen Pfad des Lebens
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